Die medikamente
Kretschmer hat die Sensitiven über 30 Jahre hinweg genau studiert. In der letzten Ausgabe seine Buchs „Der sensitive Beziehungswahn“ von 1950 werden zahlreiche Fälle mit großer Genauigkeit Beschrieben. Antidepressiva und Neuroleptika gab es zu dieser Zeit noch nicht. Ihre Einführung in die Therapie der chronischen Störungen um 1952 hat zu einer Überarbeitung der Konzepte veranlasst. Die Psychiater erforschten welche Medikamente die Sensitiven am effektivsten stabilisieren konnten.
Seit einiger Zeit entsteht ein Konsens über die kombinierte Verwendung von klassisch dosierten Antidepressiva mit niedrig oder mäßig dosierten Neuroleptika, wie folgende Zitate zeigen.
A. PROSPERI und G. PUPESCHI schreiben [2] : «Was die Chemotherapie betrifft, so darf diese ruhig gemischt sein, eine gleichzeitige Anwendung von Antidepressiva und Neuroleptika empfiehlt sich in diesem Fall (Guyautat u. a., 1966; Sutter u. a., 196*). Die Anwendung vorzugsweise trizyklischer oder Serotonin-Wiederaufnahmehemmender Thymoleptika erfolgt im Rahmen gängiger Anwendungsdauern und –modalitäten. Die Behandlung erfolgt unmittelbar bei den ersten Anzeichen der Störung.
Die Anwendung von inzisiven Neuroleptika, die nicht von allen Autoren systematisch empfohlen wird, muss in geringen oder mittleren Dosen erfolgen. Überdosierungen könnten ein vollständiges Einstellen der delirischen Symptome und damit eine Verschlimmerung des depressiven Syndroms zur Folge haben. Erwähnt sei hierbei, dass atypische Neuroleptika oder Antipsychotika ein gute Lösung sein können, jedoch stets in geringen Dosen.»
In diesem Sinne argumentieren auch J.P. OLIE, T. GALLARDA und E. DUAUX [3] : «Manche Sensitive brauchen eine langfristige Chemotherapie (Anafranil, 50mg/Tag und Largactil, 100mg/Tag).» Die Dosierung des Antidepressivums Anafranil ist normal, die des Neuroleptikums Largatil ist niedrig.
A.FOURNIER schreibt [4] : «Nach der 15 tägigen Behandlung eines Kretschmer’schen Sensitiven mit reinen Neuroleptika (Haloperidol und Nozinan) waren keine Veränderungen festzustellen und der Wahn bestand weiterhin. Nach Ergänzung der Behandlung durch täglich 150mg Floxyfral (3 Tabletten à 50mg) stellten wir innerhalb von 10 bis 15 Tagen eine klare Verbesserung, einhergehend mit Distanzierung und Kritischer Betrachtung des eigenen Wahns fest. Dieser Zustand ermöglichte es dem Patienten, die Klinik ca. einen Monat nach seiner Einlieferung wieder zu verlassen.»
Es wird deutlich, dass die Autoren einstimmig zu einer moderaten Dosierung der Neuroleptika raten, da ansonsten das depressive Syndrom verschlimmert wird.
Dies bestätigen M. ESCANDE, L. GAYRAL und E. GOLDBERGER [4] : «Eine häufige Reaktion ist die depressive Reaktion, die mit dem Wahnzustand einhergeht und die im Laufe der Entwicklung, unter medikamentöser Behandlung, wenn der Wahn mit langfristig wirkenden Neuroleptika behandelt wurde, immer ausgeprägter wird.“ Dieselben Autoren stellen in einem anderen Dokument [5] fest, dass diese depressive Reaktion oft mit Hypochondrie einhergeht.»
M. ESCANDE und B. BONNET erläutern die Ursachen dieser „depressiven Reaktion“ [6] : «Die Depression wird in diesen Fällen zweifellos verursacht durch pharmako-klinische Effekte, die jedoch von den psycho-strukturalen Umbildungen nicht zu trenne sind. Darunter befindet sich die Trauer um den Wahn, der wie ein Verlust des Ideal-Ichs und des Ich-Ideals wahrgenommen wird.»
Diese Depression ist oft schwer als solche zu charakterisieren. Viele Autoren sprechen von der «larvierten Depression», weil sie sich im Wahn versteckt. Trotzdem ist sie stets präsent und mit Antidepressiva auch gut zu behandeln.
Die Verschreibung ist sehr heikel
Die Verschreibung ist sehr heikel und darf ausschließlich durch einen Psychiater erfolgen.
Zuerst muss man wissen, dass Antidepressiva, wie von FOURNIER beschrieben, erst nach 10 bis 15 Tagen zu wirken beginnen. Eine eventuelle Wirkungslosigkeit der Antidepressiva kann also erst nach ca. 3 Wochen festgestellt werden.
Nicht alle Sensitiven reagieren auf gleiche Art und Weise auf Medikamente. Manche reagieren sehr gut auf eine langfristige Therapie mit einem einzigen, normal dosierten Antidepressivum. In diesem Fall müssen die Angehörigen darauf achten, dass der Sensitive nicht in eine Phase der Übererregung übergeht. Dies kann mehre Monate oder Jahre nach Beginn der Behandlung vorkommen. Sollte dies passieren, sollte eine sehr geringe Dosis eines Neuroleptikums verabreicht werden, um Übererregung vorzubeugen. Diese Gelegenheit sollte dazu genutzt werden, ein Neuroleptikum mit leicht enthemmender Wirkung auszuwählen, wie beispielsweise SOLIAN (ca. 200mg/Tag). Dieses hat positive Auswirkungen auf die negativen Symptome wie soziale Isolation, Apathie, Niedergeschlagenheit, Ambivalenz, Verlust der Lebensfreude…
Zur Schwierigkeit einer differenzierten Diagnose gegenüber der Schizophrenie
Wie bereits erklärt weist der akute dissoziative Wahnsinn große symptomatische Ähnlichkeiten zur Schizophrenie auf.
Kretschmer schreibt darüber : “Des difficultés pronostiques sérieuses se posent dans les cas où des mécanismes de types de “réactions schizophréniques” surgissent aux points culminants d’un trouble sensitif, pour disparaitre ensuite sans laisser de traces”.
Die Erfahrung zeigt, dass selbst in solchen Fällen die Kombination aus Antidepressivum als Basismedikament und einem Neuroleptikum in geringen Dosen hervorragende Ergebnisse bringt. Natürlich ist die erste Reaktion oft die Verschreibung eines Neuroleptikums als Basismedikation, um die weitaus häufiger als der akute dissoziative Wahnsinn vorkommende Schizophrenie einzudämmen. Wenn die Medikation sich jedoch als ineffektiv erweist, muss sie unverzüglich eingestellt werden, wie bei FOURNIER in einem vorherigen Beispiel. In der Tat versetzen Neuroleptika den Sensitiven in einen schädlichen depressiven Zustand.
1.Paranoïa et sensibilité, traduit par S. Horrinson, 1963 ,PUF.
2.Approches psychopathologique, clinique et thérapeutique du délire de relation des sensitifs : à propos d’un cas. Revue française de psychiatrie et de psychologie médicale. 2002, volume 6, n°52, pages 55-60
3.Le livre de l’interne, Psychiatrie , 2ème édition, Médecines Sciences Publications, Lavoisier, page 246
4.Dépressions et antidépresseurs au cours des traitements par les neuroleptiques à effets prolongés. Annales médico-psychologiques, 1974,132,2,5 pages 669–694
5.L’hypocondrie émergente “méta-thérapeutique” ; In : Comptes-rendus du Congrès de Psychiatie et de Neurologie de Langue Française, Nimes, 1974,Paris, Masson,1974,300-308
6.Le délire de relation sensitif de Kretschmer. Aspects historiques et modernes. La semaine des hôpitaux, 1985, 61, 14, pages 893-899
7.Kretschmer, ibid, page 4